Die Jubiläumstagung vom Freitag, den 10. November

«Sprachenlernen im Kontext von Flucht und Trauma»

Basel. Im November 2023 feierte der Verein sprachmobil.ch seinen 5. Geburtstag mit der Durchführung einer Tagung zum Thema «Sprachenlernen im Kontext von Flucht und Trauma». Wie können jene Fachkräfte und Freiwilligen, die mit Menschen mit Fluchthintergrund zu tun haben und mit ihnen Deutsch lernen, für das Thema Flucht und Trauma sensibilisieren? Wie können wir Lehrkräfte und Institutionen dazu animieren, ihre wichtige Tätigkeit trauminformierter anzugehen? Nach einem Impulsreferat von Verena Plutzar , vom Institut für Germanistik an der Universität Wien, diskutierten in der Aula der Universität Basel v.l.n.r. die Impulsgeberin Verena Plutzar; Christine Schraner Burgener , Staatssekretärin für Migration SEM Bern ; souverän moderiert von Sedrik Eichkorn, Radio und Fernsehjournalist SRF; die in Winterthur an der ZHAW lehrende Professorin Liana Kostantinidou vom Institut of Language Competence; Beatrice Brunner,Geschäftsführerin K5, Basler Kurszentrum für Deutsch und Integrationskurse; sowie Shams Feruten, Student und Deutschlehrer für Geflüchtete in Basel.

Abstract Impulsreferat

von Frau Verena Plutzar

«Sprachenlernen im Kontext von Flucht und Trauma »

Der Vortrag gibt Einblick in die Zusammenhänge zwischen Erfahrungen im Prozess der Flucht und dem Erlernen einer neuen Sprache und ermöglicht eine neue Perspektive auf

den Sprachlernprozess von geflüchteten Menschen zu gewinnen. Dabei wird auf das psychoanalytische Modell der sequentiellen Traumatisierung zurückgegriffen. Menschen haben nach der Flucht eine Reihe von Herausforderungen zu meistern, dazu gehört die Verarbeitung von Verlusten und die Orientierung in einer neuen Lebenssituation. Beobachtungen z eigen, dass Menschen im Kontext von Flucht ganz unterschiedlich offen für das Erlernen der neuen Sprache sind. Manche lernen schnell und andere zeigen Schwierigkeiten voranzuschreiten. Warum ist das so? Hier hilft es, den Prozess der Flucht als einen komplexen psychologischen Prozess mit bedeutenden und bleibenden Auswirkungen auf die Identität eines Individuums zu verstehen und Sprache als identitätskonstituierend und verändernd zu begreifen. Die engen Verbindungslinien zwischen Sprachverlust und Aneignung und Fluchterfahrungen machen die Notwendigkeit deutlich, den Sprachlernort nicht nur emotional, sondern auch sprachlich als „sicheren Ort“ zu gestalten. Der Rückgriff auf die Sprachen der Lernenden kann dabei eine wichtige Rolle spielen. Diese Zusammenhänge werden im Vortrag nicht nur kognitiv, sondern auch emotional nachvollziehbar gemacht, indem die eigenen Erfahrungen des Zuhörenden wie auch literarische Stimmen einfliessen.

Zur Person von Verena Plutzar

Studium der Germanistik und Kunstgeschichte in Wien, Studium Interkulturelle Kompetenzen an der Donau-Universität Krems. Von 1991-2001 als Kursleiterin in Deutschkursen für migrierte und geflüchtete Menschen an verschiedenen Erwachsenenbildungsinstutionen tätig. Von 1998- 2007 Mitarbeiterin einer unabhängigen Flüchtlingsorganisation. Zu den Aufgaben dort gehörte die Koordination von Deutschkursen sowie Planung und Koordination von EU-Projekten. In diesem Rahmen Entwicklung des „Sprachen- und Qualifikationsportfolios für MigrantInnen und Flüchtlinge. 2005 bis 2009 Lektorin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik der Universität Wien, Mitbegründerin des Netzwerks SprachenRechte (www.sprachenrechte.at). 2010- 2020 freiberufliche Vortrags- und Workshoptätigkeit. Seit 2020 Hochschullehrende an der KPH Wien/Krems und Lektorin an der Universität Wien. Auslandstätigkeit in Peking/China (Universität) und Nairobi/Kenia (Schule für Straßenkinder)

Drei Fragen an Verena Plutzar, Hochschullehrende in Wien

«Flucht und Trauma bedürfen einer gesellschaftlichen Anerkennung»

Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren mit dem Tagungsthema «Sprachenlernen im Kontext von Flucht und Trauma». Warum bewegt Sie dieses Thema, persönlich und wissenschaftlich?

«1994 sind viele Menschen vor dem Krieg in Ex-Jugoslawien geflüchtet und sehr viele davon nach Wien. Österreich war ja damals unmittelbare Nachbarschaft. Damals habe ich Deutsch für Erwachsene bei einer Flüchtlingsorganisation unterrichtet und ich merkte, dass im Unterricht etwas anders lief als in gängigen VHS-Kursen (Volkshochschule), die ich davor gehalten hatte. Es war also eine Notwendigkeit, mich mit diesem Thema zu beschäftigen. Als mich dieses Thema auch später nicht losliess, wurde mir klar, dass es auch mit meiner Familiengeschichte zu tun hat. Diese persönliche Auseinandersetzung ist wie ein Puzzle, das bis heute noch nicht ganz fertig ist.»

Mit der Tagung soll das Bewusstsein für dieses Thema geschärft und erweitert werden. Wo besteht aus Ihrer Sicht am meisten Nachholbedarf?

«Erstens in dem gesellschaftlichen Bewusstsein, dass Flucht und das damit zusammenhängende Trauma potentiell jeden treffen kann und das Thema daher auch alle betrifft. Flucht und Trauma sind zwar individuelle Erfahrungen, die aber gesellschaftlich eingebettet sind und sie bedürfen daher einer gesellschaftlichen Anerkennung. Damit hängt zweitens zusammen, dass eine Flucht nicht mit der Ankunft endet, sondern dass die Zeit danach entscheidend dafür ist, wie sich das Trauma entwickelt. Dazu gehört die Aufnahmesituation ganz allgemein, die Unterbringung, wie das Verfahren läuft, wie gut man informiert wird, aber auch die Möglichkeit, Beziehungen aufzubauen, und seinen Unterhalt zu verdienen. Das alles unterstützt dann auch das Erlernen der neuen Sprache.»

Angenommen alle involvierten Kreise verfügen über mehr Informationen zu diesem Thema: Würde das die Bedingungen für Deutschlernende mit Fluchthintergrund verbessern? Und wenn Ja, wie?

«Ja, unbedingt! Hier gilt alles, was ich vorhin gesagt habe. Die Deutschlernangebote würden differenzierter werden, enger verzahnt auch mit Tätigkeiten, die für Lernende Sinn ergeben. Und auch die psychosoziale Unterstützung wäre gewährleistet. Zudem würden die Zeiträume der Angebote flexibler werden. Und für Unterrichtende gäbe es das Angebot begleitender Supervision und Fortbildungen zum Thema Trauma. Und mehr Geld, weil auch diese Arbeit mehr Anerkennung bekommen würde.»

Drei Fragen an Christine Schraner Burgener, Staatssekretärin für Migration SEM Bern

«Es ist völlig klar, dass dieses Thema bei uns eine hohe Priorität geniesst.»

Wie oft machen Sie sich als Schweizer Migrations-Chefin Gedanken zum Themenpaar Flucht und Trauma?

«Wir sind uns beim SEM bewusst, dass viele Asylsuchende im Heimatland oder während ihrer Flucht traumatische Erlebnisse hatten, die sie oft nicht verarbeiten konnten. Deshalb legen wir in den Bundesasylzentren viel Wert auf medizinische Abklärungen und Informationen, damit die Asylsuchenden die Behandlungen erhalten, die sie brauchen. Unsere Mitarbeitenden sind hier entsprechend geschult und sensibilisiert. Wir arbeiten auch zusammen mit dem Fraueninformationszentrum Zürich (FIZ), das über hohes Fachwissen im Bereich Menschenhandel und Trauma verfügt.»

Inwiefern beeinflusst Sie Ihr Wissen über dieses Themenpaar bei Ihrer Arbeit?

«Als Staatssekretärin für Migration ist meine Aufgabe, sicherzustellen, dass traumatisierte Asylsuchende in unseren Bundesasylzentren den Schutz und die medizinischen Behandlungen erhalten, die sie brauchen. Zusammen mit den Fachleuten im SEM arbeiten wir stetig daran, unsere Angebote in diesem Bereich weiter zu verbessern. Während meiner Arbeit als Sondergesandte des UNO-Generalsekretärs in Myanmar wurde ich mit diesem Thema sehr oft konfrontiert, insbesondere durch den regelmässigen Kontakt mit den aus Myanmar vertriebenen Rohingyas (nach Bangladesh). Im grössten Flüchtlingscamp in Cox Bazaar haben wir viele Therapeutinnen für traumatisierte Frauen eingesetzt. Diese Erfahrungen dienen mir auch in der heutigen Funktion.»

Auf einer Skala von 1 bis 100: für wie wichtig erachten Sie für SEM-Mitarbeitende, die im Rahmen ihrer Arbeit regelmässig mit Menschen mit Fluchthintergrund zu tun haben, das Wissen über Folgen und Einfluss von Flucht und Trauma?

«Bei so einem ernsten Thema mag ich keine Rankings machen. Aber es ist völlig klar, dass dieses Thema bei uns eine hohe Priorität geniesst.»

Zur Person von Staatssekretärin Christine Schraner Burgener

Geboren 1963 in Meiringen BE, schloss 1988 das Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Zürich ab und arbeitete anschliessend am Bezirksgericht Horgen, bevor sie 1991 in den Diplomatischen Dienst wechselte. Sie war in Marokko, Irland, Thailand und Deutschland tätig. An der Zentrale in Bern wirkte sie unter anderem als stellvertretende Direktorin der Direktion für Völkerrecht, als Generalsekretärin der internationalen Humanitären Ermittlungskommission und als Koordinatorin für Terrorismusbekämpfung. Von 2009 – 2015 war sie Botschafterin in Thailand. Sie übte diese Funktion bis 2012 im Jobsharing mit ihrem Ehemann Christoph Burgener aus, der als Botschafter die Schweiz in Kambodscha, Laos und Myanmar vertrat. Ab 2015 war sie die Schweizer Botschafterin in der Bundesrepublik Deutschland, bis sie 2018 die Funktion als Sondergesandte des UNO-Generalsekretärs zu Myanmar, im Range einer Untergeneralsekretärin, übernahm.

Seit dem 1. Januar 2022 ist Christine Schraner Burgener Staatssekretärin für Migration. Christine Schraner Burgener ist Mutter von zwei erwachsenen Kindern. Sie spricht Deutsch, Französisch, Englisch und Japanisch.